Erinnerung lehrt Verstehen – ich bin ein Kriegskind
Es ist Frühling und wieder blüht der
Flieder wie am 21. April 1945 als das Dorf Ahrensfelde durch die Soldaten der
Roten Armee vom Hitlerfaschismus befreit wurde. Der Ort, in dem ich heute wohne,
noch immer arbeite und zur Freude vieler Ahrensfelder und zum Verdruss einiger
mich politisch engagiere. Trotz meiner Jahre. Aber gerade die sind es, dass ich
diesen Tag ganz besonders festlich, freudig und nachdenklich begehe. Und ich
lese vielleicht am Abend wieder Tolstoi, ein selten kluger Mensch, als Schriftsteller
und Denker ein Genie, dessen Worte eigentlich heute als Transparent am
Bundestag und natürlich an unserem Rathaus hängen sollten: „Damit der Krieg
verschwindet, braucht man weder Konferenzen noch Friedensgesellschaften, man
braucht nur eins: die Wiederherstellung der Würde des Menschen.“
Meine Generation ist vom Krieg
gezeichnet, physisch und psychisch, eine Generation der vermännlichten Mütter,
eine Generation ohne Väter, eine Generation des Hungers und der Entbehrung. Das
durchlebte Leid hat sich an uns geheftet und wir mussten damit leben, um überleben
zu können. Und es hat uns stark gemacht. Wir haben verzweifelt das Glück
gesucht und die Liebe, die wir lange entbehren mussten, wo wir sie am meisten
gebraucht hätten. Nur wir Kinder waren vielfach der Grund, dass unsere Mütter
unter Bomben und Entbehrungen, unter Verlust der Liebsten überhaupt noch
weiterleben wollten. Diese vaterlose, männerlose Gesellschaft war erfüllt von einer
großen Leere für die Kinder und die Frauen. Die Frauen vermännlichten, wir
Kinder verwahrlosten.
Und als die Rote Fahne über der Ruine
des Reichstags wehte, irrte eine verstörte, hungernde und ziemlich verwahrloste
Schar von Kindern durch die Stadt, die ihre Mütter fragten und Tanten, die
Kriegsinvaliden ohne Bein, ja selbst die fremden, nach Machorka riechenden
Soldaten an den Feldküchen: Weißt du, wo mein Vater ist? Ich gehörte dazu.
Der Krieg, zumindest mit Bomben und Schießerei war zu Ende, aber für mich, meine Geschwister und Freunde noch lange nicht. Er knurrte in unseren Mägen, zeigte sich in den Läusen in den Haaren und mit der Krätze auf der Haut oder an unseren losen, schlechten Zähnen. Auch an unseren dünnen Beinen, die aussahen, wie ein Storch im Salat. Ich hatte wie die anderen noch nie einen Storch gesehen, die waren wohl alle abgeschossen worden und in den Kochtöpfen gelandet, aber wir mussten unsere Kniestrümpfe mit Gummis festhalten, damit sie nicht rutschten, so dürre waren wir. Keuchhusten, Masern und Schlimmeres waren unsere Begleiter, weil wir so spack waren und blass wie Leute, die tot waren. Wir hatten so viele Tote gesehen nach Bombenangriffen und in den Ruinen. Der Tod begleitete uns im Heranwachsen.
Aufnahme von Jwgeni Chaldej mit seiner Leica am 2. Mai 1945, ein inszeniertes Foto, das um die Welt ging.
Das deutsche
Nazi-Reich hatte die Welt für sechs Jahre in Brand gesetzt. Es ist daher schon
bezeichnend, dass heute russlandfeindliche Haltung demonstriert wird, die
jenseits jeder Scham und historischen Verantwortung ist, die das deutsche Volk unter
faschistischer Führung in Russland im Zweiten Weltkrieg angerichtet hat. 26,6
Millionen Tote, darunter Millionen Frauen und Kinder, denn zwei Drittel von
ihnen waren Zivilisten. Mehr als 1.700 Städte und 70.000 Dörfer wurden
völlig von der Landkarte gelöscht. Ebenso im totalen Krieg 32.000 zerstörte
Fabriken und 65.000 Kilometer Bahnstrecken. Millionen zerstörte oder
geraubte Kultur, geplünderte Häuser, unzählige vergewaltigte Frauen und Mädchen
im europäischen Teil der Sowjetunion. Die russische Erde ist noch immer
durchtränkt von Blut der Ermordeten und den Tränen der überlebenden
Angehörigen.
Das vergangenheitsbewältigende
Kollektivbewusstsein für ein angemessenes Angedenken und eine entsprechende
Demut erschöpft sich bei uns im Westen zu oft auf die eiskalt geplanten
Holocaust-Völkermorde in dieser schrecklichen Zeit. Abermillionen der toten Russen, Ukrainer, Balten, Kaukasier, Sibirier und Menschen aus Mittelasien zählen oft nicht mehr, vergessen, verdrängt die deutsche Schande.
Und deshalb ist für mich der 21. April
wie der 8. Mai ein besonderer Tag. Ich bin ich kein Pazifist geworden, sondern
ein treuer Freund der Taube Picassos, die in Deutschland im Käfig sitzt und in
Amerika geschossen wird.
(Textauszüge
auch aus meinem Buch: „Ich Bombenziel – Krieg tötet Liebe“ )