Ist der 9. November so etwas wie ein Schicksalstag?
Zumindest ist der 9: November kein Tag wie jeder andere in der Chronik der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Oft war er verbunden mit Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie, einige Male jedoch auch Verbrechen, die zum düstersten Kapitel unserer Geschichte gehören. Die Ereignisse waren kein Zufall, sie hatten sich lange angekündigt, nur das konkrete Datum war zufällig. Ja, kein anderes Datum hat derart die Emotionen geschürt und kontroverse Diskussionen hervorgerufen wie dieser 9. November. Und jedes Jahr wird die Chronik über dieses so ereignisreichentag und seine Folgen erweitert oder sogar umgeschrieben.
Die Märzrevolution 1848, die ganz Mitteleuropa erschütterte, scheiterte. Robert Blum, der moderne, volkstümliche Führer der gemäßigten politischen Linken im Frankfurter Parlament, das in der Paulskirche tagte, wurde durch seinen Tod zur Symbolfigur für den Umbruch der Revolution zwischen Herbst 1848 und Frühjahr 1849. Blum nahm am Oktoberaufstand 1848 auf der Seite der Revolutionäre an der Verteidigung Wiens gegen die kaiserlich-königlichen Truppen teil. Nach der Niederschlagung des Aufstands wird Blum am 9. November 1848 hingerichtet.

Die Novemberrevolution von 1918/19 war vielleicht die größte Massenbewegung der deutschen Geschichte. Sie beendete, beginnend mit dem Kieler Matrosenaufstand, den I. Weltkrieg und mit den Arbeiter- und Soldatenräten breitete sich der Aufstand in ganz Deutschland aus, die Monarchie wurde hinweggefegt.
Am 9. November 1918 riefen in Berlin Philipp Scheidemann die parlamentarische Republik und Karl Liebknecht die sozialistische Republik aus. Infolge der Novemberrevolution wurden viele demokratischen Errungenschaften durchgesetzt, so das Frauenwahlrecht, die Trennung von Staat und Kirche, der Achtstundentag und gewerkschaftliche Mitbestimmung. Aber ein Zitat von Rosa Luxemburg, die wie Liebknecht von Reaktionären ermordet wurde, war auch auf den Bannern unserer friedlichen Revolution vom 9. November 1989 zu lesen, das heute aktueller denn je ist: "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden."
Die Nazis verhöhnten den 9. November 1918 als Jahrestag einer „Lumpen- und Judenrevolte". Fünf Jahre später versuchten die Nazipartei NSDAP mit ihren Schlägertrupps der SA und rechten Freikorpsoffizieren mit dem sogenannten Hitlerputsch, ausgehend von München, mit einem "Marsch auf Berlin" die Macht an sich zu reißen. Der Putsch scheiterte am 9. November 1923 im Kugelhagel
Die Putschisten um Hitler, die der demokratischen Weimarer Republik ein Ende setzen wollten, verließen sich dabei auch auf zwei bittere Ereignisse 1923. Das waren einmal die Ruhrkrise und die Hyperinflation. Während der Ruhrkrise wurde das Ruhrgebiet von den Franzosen besetzt, wodurch nichts mehr produziert wurde und Massen auf die Straße landeten. Obwohl der Hitlerputsch scheiterte und die NSDAP zunächst verboten wurde, war er ein wichtiger Wendepunkt für die Partei. Hitler änderte seine Strategie und setzte auf einen "legalen" Weg zur Machtübernahme über Wahlen.
Als am 5. März 1933 ein neuer Reichstag gewählt wurde, konnte insbesondere für die Kommunisten von "freien Wahlen" keine Rede mehr sein. Ihre führenden Politiker waren, so sie nicht in die Illegalität gegangen waren schon kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme am 30. Januar in sogenannte Schutzhaft genommen worden. Auch zahlreiche Sozialdemokraten hatten sich in den Untergrund gerettet, der Parteivorstand emigrierte nach Prag. Bei den letzten freien Reichstagswahlen 1932 erhielt die SPD als zweitstärkste Kraft 20,4 Prozent der Stimmen und die KPD als drittstärkste Kraft 16,9 Prozent.
Zwei Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler ließ Hitler den Reichstag auflösen. Von Neuwahlen versprach er sich die absolute Mehrheit für seine NSDAP. Der Wahlkampf 1933 war begleitet von einem bis dahin unvorstellbaren Terror von 50.000 Mitgliedern der Sturmabteilungen (SA), der Schutzstaffeln (SS) und des "Stahlhelms". Das Wahlergebnis, dass SPD und KPD so gut wie aus dem Untergrund führten und dennoch mit insgesamt beachtlichen 30,6 Prozent die absolute Mehrheit der Nazis verhinderten, hatte nur noch symbolischen Wert. Reichstagsabgeordnete der KPD wurden verhaftet oder tauchten unter, die SPD gut drei Monate später verboten.
Was 1923 noch nicht gelang, aber 10 Jahre später mit dem Beginn der Nazidiktatur fortgesetzt wurde, führte zu dem beschämenden Ereignis in der jüngeren deutschen Geschichte, zur "Reichsprogromnacht', einer Nacht der Schande. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zündeten organisierte Schlägertrupps der Nationalsozialisten in vielen deutschen Städten Synagogen an, plünderten jüdische Geschäfte, schlugen auf jüdische Bürger ein und töteten sie. Die deutsche Bevölkerung schaute in der Mehrheit tatenlos zu oder beteiligte sich. Aber es gab auch vielerorts Zivilcourage, Menschen, die den Opfern halfen. Mit dem Pogrom und der anschließenden Verhaftungswelle erreichte die antisemitische Politik des NS-Regimes eine weitere Stufe, die am Ende in den Völkermord an den europäischen Juden mündete.Innerhalb von drei Tagen wurden hundert Menschen ermordet, zahlreiche Synagogen geplündert und zerstört, 30.000 jüdische Männer und Jugendliche verhaftet und in die Konzentrationslager verschleppt, davon 6.000 ins KZ Sachsenhausen. Die jüdische Bevölkerung wurde in Ghettos gesperrt, wurde beraubt und aus ihren Wohnungen verrieben, musste Zwangsarbeit verrichten, war von einem Tag auf den anderen völlig rechtlos, durfte nicht auswandern und musste den Judenstern tragen. Dann folgte die Deportation in die Vernichtungslager und der organisierte und systematische Judenmord. Die Progromnacht, auch Reichskristallnacht genannt, war der Auftakt zum Holocaust.
Und mit dem 9. November 1989, dem Tag des "Mauerfalls" will ich diesen historischen Exkurs schließen. Ich war aktiv dabei. Und wie viele Intellektuelle, Wissenschaftler, Facharbeiter und Künstler wollten wir keinen Anschluss á la Helmut Kohl, mit dem verlogenen Versprechen von blühenden Landschaften und die millionenfache Missachtung der Würde der "neuen Bundesbürger im Osten". Viel eher war die Mehrheit am Runden Tisch für eine Föderation gleichberechtigter Partner, aber eigentlich für eine völlig andere, neue DDR. Frei und demokratisch, sozial und humanistisch, ohne Mauern und Stasi, neutral und friedlich, ohne Parteiendiktatur und ohne Bündnisverpflichtungen. Mit freien, geheime Wahlen, Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit. Das aber war zu jener Zeit eher ein Wunschtraum, eine unrealistische Utopie. Aber mit der Hymne von Johannes Becher sollte es sein, die die Vision eines geeinten, neuen und friedliebenden Deutschlands besingt und deren Text ich deshalb aus dokumentarischen Gründen, weil der Text schön ist, viele jungen Leute ihn nicht kennen, zum Nachdenken veröffentliche:
Und der Zukunft zugewandt
Lass uns dir zum Guten dienen
Deutschland, einig Vaterland
Alte Not gilt es zu zwingen
Und wir zwingen sie vereint
Denn es muss uns doch gelingen
Dass die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint
Über Deutschland scheint.




